Weinachten naht
Zum dritten Mal ist alles Schlechte aus mir herausgeschröpft worden, „make all bad come out. Also the too much liquid in body“. Nach meinem ersten Misstrauen scheinbar mittelalterlichen medizinischen Vorstellungen und Behandlungsmethoden ausgesetzt zu sein, habe ich mich ein bisschen eingelesen und meine Widerstände schmolzen dahin. Ich bin der theoretische Typ.
Wenn ich alles gelesen hab dessen ich habhaft werden kann, darüber nachdenke und noch mal drüber schlafe, fang ich an. Ist für feurige und eher luftige Charaktere bisweilen irritierend, die das Thema dann schon fast vergessen hatten. „Zur Massage gehen“ ist hier in China eine völlig irreführende Bezeichnung für die tief in den Körper eingreifenden Handlungen, die an Muskeln, Nerven und Blutbahnen durchgeführt werden. Wie da abgestaut, blockiert und wieder losgelassen wird, grenzt an operative Eingriffe. Fühlt sich jedenfalls so an.
Erst streicht sie den Nacken sanft glatt, um dann gleich darauf energisch irgendwelche Drüsen in den Kopf zu drücken. Den Verlauf der Wirbelsäule geht sie mit dem Daumennagel herunter, dreht den Daumen ein Viertel und scratcht schon etwas fester. Jetzt werden rechts und links Teilbereiche gerieben, in einem zweiten und dritten Durchlauf schmerzhaft wund gekratzt. Ein kleiner Eiskratzer für die Autoscheiben kommt zum Einsatz. Fühlt sich jedenfalls so an.
Dergestalt vorbereitet kommen nun die Glasvasen, ausgebrannt von Sauerstoff, auf die wunden Flächen auf und saugen sich ordentlich fest. Wessen sich Elfriede Jelineks Klavierspielerin mit ihren Wäscheklammern und Nadeln aussetzt, ist eine halbherzige Weicheierprozedur dagegen. Hätte sie das hier mal erlebt, wüsste sie wirklich um die reinigende Kraft des Schmerzes und hätte mal einen Punkt gemacht und wär vielleicht Chinesin geworden. Europäische „Classic music“ kommt hier ja gut an. Ich denke jetzt, wegen der Tragik und der Süße.
Wenn in Deutschland jemand mit Hämatomen von der Massage wiederkäme, wäre wohl ein saftiges Schmerzensgeld fällig. Hier nickt der Klient beifällig und anerkennend je dunkler, „black“ die Flecken am Ende ausfallen. Die Masseurin hat gute Arbeit geleistet.
Ich frage mal nach ihrer Meinung zu meiner "Disposition" in körperlicher Hinsicht und erwarte Ausführungen zu verhärteten, verkrampften rechten Schulterpartien. Nach viel Gelächter wegen misunderstanding, hält sie einen kleinen ernsthaften Vortrag. Rechts bin ich weniger gut durchblutet als links, ich soll mich mehr bewegen, mehr Sport machen!
Das chinesische Horoskop sagt mir ich soll mich um meine Ziele kümmern und nicht wieder meine ganze Energie im Sport verpuffen lassen! So ist das wenn man von außen eine Meinung einholt.
Der Restaurantbesitzer ruft an und lädt zum Mittagessen in ein besonderes Entenlokal ein. Hellen und mich. Wir sollen eine besondere Entensuppe bekommen. Eine Bekannte, die uns schon mal beim übersetzen half, die ich sehr mag und viel zu spät kennen gelernt habe, kommt auch. Und ihr Boss. Beide arbeiten beim Gericht. Er war früher „airforce pilot“.
Nach dem Essen, wir haben uns schon verabschiedet und sitzen in verschiedenen Wagen, rufen sie an und fragen ob wir noch in seinem office einen Kaffee trinken wollen. Yeah. Meine kühnsten Träume gehen gerade in Erfüllung. Ich komm in ein Gericht! Ja, laßt mich rein, das ist mein Spezialgebiet. ich kenne schon die Gerichte und Gefängnisse Äthiopiens, will ich ausrufen. Bevor dies geschieht höre ich eine Stimme. Großhirn an Kleinhirn: Halt einfach mal die Klappe.
Vor ein paar Tagen lernte ich drei Frauen kennen. Sie arbeiten bei der Polizei. „traffic“? Nein, nein. „citizen“. Aha. „We work in prison“. Es könnte jetzt so richtig losgehen hier für mich. Wahnsinnskontakte.
Joycee holt uns abends ab ihr Haus anzusehen. Ihre Jungs haben ein Jahr Geigenunterricht und spielen uns zwei kleine Stücke auswendig vor.
Ich bin gut auf Weihnachten vorbereitet.